Freiheit, die ich meine

Reinhard Marx, Freiheit (Kösel, 2020)

Anmerkungen zu einem besorgniserregenden Buch

Dieses Buch ist besorgniserregend. Wenn ein Kardinal der Katholischen Kirche, Reinhard Kardinal Marx, in so eindringlichen Worten die Bedeutung der Freiheit für den christlichen Glauben herausheben muss, hat offenbar die römisch-katholische Kirche diese Freiheit verloren, verschwiegen, kleingeredet. Das ist besorgniserregend an diesem Buch: dass es überhaupt nötig ist. Über weite Strecken formuliert Kardinal Marx Positionen zur Freiheit des einzelnen und der an Christus Glaubenden, die selbstverständlich sind und denen man mit einer frohen „Ja, klar“ von Herzen zustimmen muss. Dass diese Selbstverständlichkeiten so laut (als Kardinal!) und so oft wiederholt werden müssen, zeigt, dass es eben keine sind, sondern von bestimmten Kreisen in der Katholischen Kirche beargwöhnte und zum Teil offen abgelehnte Haltungen sind. Das ist der Skandal, den das Buch sichtbar macht, ohne dass es ihn offen anspricht.

Reinhard Kardinal Marx lässt in der Autorenangabe auf dem Titelblatt den „Kardinal“ weg – ist das schon ein Zeichen von Distanzierung? Ich will darüber nicht spekulieren. Im Folgenden kürze ich den Verfassernamen also mit RM ab, was bitte nicht als Respektlosigkeit aufzufassen ist, sondern praktische Gründe hat.

RM spricht vieles nicht offen an, nennt bei heißen Passagen nie Ross und Reiter. Im Folgenden will ich anhand von Zitaten zeigen, welche Konsequenzen aus den Worten des Buches folgen müssten. Dass RM diese Konsequenzen nicht selbst zieht und ausformuliert, zeigt meines Erachtens, dass er die Worte gern sagt und hört, aber eine praktische Umsetzung in Form konkreter und tiefgreifender Veränderungen nicht meint.

Insofern ist das Buch auch in einem anderen Sinne hochproblematisch: Es verschleiert erneut die tiefgehenden strukturellen Probleme, wie so oft in der Kommunikationspraxis der Katholischen Kirche. Eine theologisch wohlklingende Rhetorik nötigt zum Nicken und Zustimmen. An vielen Stellen möchte man dem Kardinal von Herzen die Hand drücken: Ja, stimmt, wunderbar gesagt und geschrieben. Doch wenn man dann weiterdenkt und anführt, dann müsste aber die Kirche doch …, hat der Kardinal die Pressekonferenz beendet und den Raum verlassen. Danke fürs Gespräch.

An manchen Stellen finden sich handwerkliche Fehler, theologische Schwachstellen, und echte Frechheiten. Eine der größten Frechheiten dieses Buches besteht darin, dass keine einzige Theologin zitiert wird. RM lässt uns an seinen Lesefrüchten teilhaben. Theologische Literatur von Frauen steht nicht auf dem Leseplan. Falls doch, ist sie nicht der Erwähnung wert. Normalerweise sollte man jetzt das Buch eigentlich entsorgen. Aber dazu ist es eben von einem Kardinal.

Auf der anderen Seite erfreut einen dann manchmal bei der Lektüre die herzerfrischende Naivität, mit der RM in ungewollter Offenheit zwischen den Zeilen seine wirkliche Meinung offenlegt und Insider-Informationen preisgibt, die in sich äußerst bedenklich und hochproblematisch sind. Auch das möchte ich im Folgenden zeigen.

Überblick

RM versteht sein Buch als Loblied auf die Freiheit, die für ihn notwendig zum Christsein dazugehört. Gott hat den Menschen als sein Ebenbild und damit frei geschaffen. Freiheit ist aber auch mit Verantwortung verbunden und insofern immer auch mit Bindung an Regeln, die es ermöglichen, dass alle in Freiheit leben können. Insofern ist Freiheit auch Anstrengung und ein Dienst der Kirche bzw. steht die Kirche im Dienst der Freiheit. In der Gegenwart gibt es „Bruchstellen“, die es nötig machen, immer wieder neu für die Freiheit auch kämpferisch einzutreten, insbesondere im Bereich der Bewahrung der Schöpfung. Vor allem in diesem Teil wird RM nicht müde, die mahnenden Worte von Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si’ nachzuerzählen. Freiheit sei ein bleibender Auftrag für alle Menschen und die Kirche – und dieser Auftrag zur Freiheit erfordere Mut!

So weit, so gut.

Im Folgenden arbeite ich mich an Zitaten (zwischen «Guillemets») ab – das Problem dabei ist, dass man den Vorwurf erheben könnte, etwas aus dem Zusammenhang zu reißen. Ich habe beim Schreiben immer das Buch an der Stelle offen, aber ich darf es nicht ganz abdrucken. Ich will deswegen die Zitate nicht so kurz halten. Man möge aber gern im Ganzen nachlesen. Wenn Ihnen das Folgende zu lang ist, lesen Sie die kritische Würdigung des Buches von Dr. Christiane Florin oder die Rezension von Christina Rietz.

Details

S. 36: «Und Vertreter der Kirche haben selbst viel dazu beigetragen, ein Bild von Gott zu zeichnen, das der Freiheit keinen Raum lässt: Gott fordert etwas, wir gehorchen und dann werden wir belohnt. Von hier aus ist der Schritt zu einem blinden Gehorsam nicht weit; und auch der Schritt hin zu einer Verwaltung der Religion durch einige wenige, die den Willen Gottes interpretieren und dadurch Herrschaft ausüben über andere, ist relativ leichtgetan.
Damit ist aber eigentlich das kostbare Geschenk der Freiheit des Menschen eingeschränkt, und Angst regiert das Verhalten der Menschen: die Angst vor Gott und die Angst vor seinen Vertretern auf Erden. Eine solche Idee ist für mich völlig unvereinbar mit dem Bild eines Gottes, der frei ist und frei macht. Und es ist auch nicht vereinbar mit dem Blick auf die Person Jesu Christi, auf sein Leben, Sterben und Auferstehen und auf sein Evangelium, das eine frohe und gute Botschaft ist. »

Schön geschrieben – aber wen meint RM damit? Wer sind die „Vertreter der Kirche“, die so schreckliche Dinge tun? Warum sind hier keine Belege genannt, keine Zitate mit Namen aufgeführt? Wen muss ich mir hier vorstellen? Das gleiche gilt für folgendes beängstigendes Zitat:

S. 37: «Und auch in der Kirche selbst begegne ich zu vielen, die im Grunde ein reines Gehorsamsverhältnis zu Gott propagieren und damit den Gedanken der Freiheit nicht wirklich in ihren Glauben integrieren. »


Eine Stelle, die mir sehr gut gefällt, ist auf S. 37: Da fordert RM dazu auf, die Augen zu schließen und sich Gott vorzustellen. Dann fährt er fort:

S. 38: «Was immer es auch sei, als Theologe muss ich Ihnen sagen: Es hat nichts mit Gott zu tun! Diese Übung hilft mir manchmal, mir wieder klar zu machen, dass all die Bilder und Worte, die wir in der Tradition des Glaubens haben und benutzen, immer unter dem größten Vorbehalt stehen müssen: Wir machen uns von Gott ja Vorstellungen im Rahmen unserer menschlichen Möglichkeiten. Gott aber ist, wie die Theologie sagt »totaliter aliter« – »gänzlich anders«. Er ist kein Teil der Welt, der Schöpfung. Er ist ja der Schöpfer der Welt. Und so ist das Wort »Gott« ein menschliches Wort, das aber Menschen grundsätzlich nicht begreifen können. »

Das sind sehr wichtige Einsichten, die aber nicht von allen führenden Personen in der römisch-katholischen Kirche geteilt werden, denn auf S. 41 muss RM etwas beklagen, was geradezu beängstigend ist, wenn das ein Kardinal feststellen muss:

«Zugleich | bleibt die Versuchung bestehen, Gott in menschlichen Kategorien zu interpretieren, ihn auf Normen zu reduzieren, die als Wahrheiten festgelegt und dann von einigen wenigen wirkmächtig verwaltet, interpretiert und angewendet werden. »

Freiheit, so RM, ist aber etwas Unveräußerliches, etwas, das zum Menschen als Gottes Geschöpf wesenhaft dazugehört:

S. 49: «Die Auseinandersetzungen um die Freiheit sind eben nicht nur Machtkämpfe von Institutionen – die »libertas ecclesiae« gegen den Anspruch der politischen Macht –, sondern müssen dann auch konsequent auf die Freiheit des Menschen gegenüber diesen Institutionen übertragen werden und hinführen zu der Erkenntnis und Akzeptanz, dass diese Freiheit in der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründet, in der Würde des Menschen, die auch in seinen Gewissensentscheidungen unbedingt zu respektieren ist. »

Ja, die Gewissensfreiheit und das Respektieren der Gewissensentscheidungen des Einzelnen sind ein hohes Gut. Während noch alle nicken und zustimmen, beschleicht einen das dumpfe Gefühl, was es bedeuten könnte, dass das manche anders sehen könnten. Wer sind die, die das anders sehen? Und warum führt die konkrete Praxis der römisch-katholischen Kirche dann zu solch eigenartigen Konsequenzen? Die Gewissensentscheidung eines Menschen, dass seine Ehe gescheitert ist, dass er sich scheiden lassen muss, dass er der neuen Beziehung eine rechtliche Grundlage geben will und also erneut (standesamtlich!) heiratet, respektiert die Lehre der römisch-katholischen Kirche dahingehend, dass diese Gewissensentscheidung als permanente schwere Sünde bezeichnet wird, die zum völligen Ausschluss von allen Sakramenten führt. Dazu äußert sich RM aber nicht.


RM arbeitet sich dann daran ab, dass die römisch-katholische Kirche sehr lange gebraucht habe, Religionsfreiheit und Menschenreche zu akzeptieren:

S. 53: «Erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Kirche verstanden, dass der Einsatz für die Freiheit des christlichen Glaubens den Einsatz für die Freiheit aller einschließt. Das gehört meines Erachtens zum unwiderruflichen Grundauftrag der Kirche in der Welt, gerade heute.

In dem Zusammenhang prangert RM auch die „Politische Versuchung im Gewand klerikaler Machtansprüche“ an. Statt jedoch konkrete Personen zu nennen, an die er dabei denkt, beschwört er die gruselige Figur des Großinquisitors aus den „Brüdern Karamasow“ von Fjodor M. Dostojewski herauf. Ja, wie furchtbar! Gut, dass es den heute nicht mehr gibt, oder? Oder?? – (Das Amt gibt es praktisch noch und wurde lange Jahre bekleidet von …, na, Sie wissen schon. Lassen wir das. Der Name wird nur ein einziges Mal auf S. 100 genannt.)

Jedenfalls betont RM, dass der Glaube an Jesus eine transzendente Beziehung zu Gott schafft, die wiederum ein revolutionäres Potenzial hat:

S. 59: «Die Freiheit des Menschen, die im Leben und in der Verkündigung Jesu sichtbar wird, gründet in einer solchen transzendentalen Beziehung zu Gott und birgt gerade deshalb ein revolutionäres Potenzial! »

Mit anderen Worten: Wer an Gott glaubt, hat vor keinem Menschen (auch keinem Großinquisitor) Angst, sondern ist frei. Das ist richtig. Deshalb werde ich vor niemandem niederknien, außer vor meinem Herrgott allein. Es wird in der Kirche aber zu viel gekniet, vor allem vor den Falschen. Aber das ist von mir, nicht von RM.


Zurück zu RM und seinen beängstigenden Insider-Informationen. Er weiß, dass es Kreise gibt, die mit dem „revolutionären Potenzial“ gar nichts anzufangen wissen, sondern lieber in die gute alte Zeit vor der Moderne zurückkehren wollen:

S. 64: «Eine Kirche jedoch, die in einer rein negativen Sicht der Moderne verharrt und sich zurückträumt in eine idealisierte Vergangenheit, in der die Wahrheit des Christentums von einigen Wenigen interpretiert und verwaltet allen Menschen aufoktroyiert werden könnte, ist nicht nur überholt, sondern sogar zu verhindern. Dass solche Stimmen zum Teil vermehrt zu hören sind, beunruhigt mich. Sie haben, wie schon Papst Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsrede zum Zweiten Vatikanischen Konzil gesagt hat, »nichts gelernt aus der Geschichte«. Er bezeichnet solche Stimmen als »Unglückspropheten « und stellt erfrischend fest: »Wir aber sind ganz anderer Meinung.« »

Wer um alles in der Welt sind diese Leute, die RM hier auf dem Schirm hat? Und: Papst Johannes XXIII. war damals ganz anderer Meinung, aber was ist mit Johannes Paul II. und Benedikt XVI.? Ist Papst Franziskus auch „ganz anderer Meinung“? Und wenn ja, warum merkt man das nicht? Ich mache mir darüber Sorgen, dass sich RM Sorgen macht …


RM selbst scheint aber doch die Autonomie des Menschen zu bevorzugen (was mich wieder etwas beruhigt):

S. 67: «Im Letzten geht es um die Frage, wie Freiheit eingebunden werden kann in das Verhältnis zum anderen, in das gesellschaftliche Gesamtgefüge und so einmündet in eine Perspektive des guten Lebens für alle. Wenn der Staat oder eine religiöse Institution mir detailliert vorschreiben, was ich tun muss, ist das Konzept der Freiheit eigentlich nicht zu halten. Staat und Kirche werden dann zu autoritären Systemen, in denen einige wenige entscheiden, was für andere gut sein soll. Der Weg der Freiheit ist abgeschnitten. »

Genau. Ist das eine eher theoretische Überlegung, bei der man sagen kann, dass es – Gott sei Dank! – nicht so in Wirklichkeit ist? Oder ist das eine latente Gefahr bei einer Überbewertung des kirchlichen Lehramtes? Ja, ist ein kirchliches Lehramt, wie es sich derzeit im kanonischen Recht und im Katechismus zementiert hat, mit diesen Aussagen von RM überhaupt kompatibel? Schon wieder kommen in mir große Sorgen und Bedenken hoch, und es wird noch schlimmer. Mit Recht verurteilt RM die Instrumentalisierung von Religion(en) zum Durchsetzen partikularer Interessen und Ausübung illegitimer Macht:

S. 73: «Manche Vertreter der Religionen können der Versuchung nicht widerstehen, im Schwung dieser Instrumentalisierung selbst neu an Bedeutung zu gewinnen, und zahlen dafür den Preis, sich fundamentalistisch zu verbiegen und letztlich Feinde der Freiheit zu werden. Aus dem christlichen Glauben heraus, und damit auch für die Kirche, ist das ein inakzeptabler Weg, ein Schritt zurück in die falsche Richtung und, um es einmal drastisch zu formulieren, ein Verrat an der Freiheitsbotschaft Jesu. Der Glaube wird in den Dienst der Politik oder sogar der Ideologie genommen. »

Wieder die bange Frage: Wen oder was meint RM da genau? An wem arbeitet er sich ab? Er scheint deutlich im innerkirchlichen Rahmen zu sprechen – wer tut da solche gefährlichen Dinge? Und warum deckt RM diese Machenschaften nicht mit Namensnennungen auf?


Bisweilen gleitet RM dann aber in einen schwammigen Theologensprech ab, der wenig hilfreich ist. Ein Beispiel:

S. 77: «Freiheit und Erlösung, die Befreiung des Menschen aus Zwängen, Angst und Sünde, die ja im Grunde Selbstverkrümmung ist, hat zu tun mit der Erlösung, der Rettung des Menschen aus einer »Zivilisation des Todes«.

Was ist die „Zivilisation des Todes“? Es scheint ein Lieblingswort von RM zu sein, so jedenfalls zeigt es eine bekannte Suchmaschine im Internet an. Allerdings stammt es nicht von ihm, sondern vermutlich von Papst Johannes Paul II. („Kultur des Todes“ hat er es genannt und damit alles gemeint von Abtreibung über unehelichen Sex bis Sterbehilfe und ausbeuterischen Kapitalismus). Gern wird es heute von Abtreibungsgegnern, auch von Gegnern der „Pille danach“ verwendet (z.B. auf einer Website der Priesterbruderschaft St. Pius X.). Solche Wortungetüme („Zivilisation des Todes“, „Entweltlichung“, „Relativismus“ und andere mehr) sind theologische Nebelkerzen aus einer bestimmten, sehr dominanten „Schule“. Sie verschleiern, was wirklich gemeint ist, es sind Gummibegriffe, die man erst definieren müsste. RM betreibt leider auch bisweilen eine solche Scheintheologie. Beispielsweise fasst er auf S. 78–79 sehr schön wichtige Aspekte der „Theologischen Anthropologie“ von Thomas Pröpper zusammen. Alles gut zu lesen, aber ohne jede Konsequenzen. Die Konsequenzen, die Thomas Pröpper fordert, erwähnt RM nicht.


Beängstigend ist auch das lange Zitat aus dem Beschluss der Würzburger Synode „Unsere Hoffnung“ auf S. 83–85. Die z.T. selbstkritischen Wunschvorstellungen, die damals formuliert wurden, sind in der Folgezeit nicht eingeholt, nicht realisiert worden. Wenn RM kommentiert, das alles sei «nach wie vor aktuell und zeitgemäß», dann ist das das implizite Eingeständnis, dass die Forderungen und Konzepte der Würzburger Synode faktisch nicht umgesetzt wurden und derzeit auch nicht umgesetzt werden. Wer das bisher nur ahnte, hat hier die Bestätigung und das ungewollte Eingeständnis eines Kardinals schriftlich.

Allerdings hat RM auch Wunschvorstellungen und Träume: Die Kirche als Zeichen für das Reich Gottes, aber nicht damit identisch, müsse doch die wahre Freiheit erfahrbar machen:

S. 87: «Das erfordert auch einen ständigen Prozess der Veränderung, der Umkehr und Erneuerung von allen in der Kirche. »

Man muss genau lesen: Es heißt nicht, einen ständigen Prozess der Veränderung der Kirche, sondern von allen in der Kirche. Ein rhetorischer Trick: Nicht die Kirche muss sich verändern, sondern wir alle. Dass ich als glaubender Mensch immer zur Umkehr aufgerufen bin, ist eine Selbstverständlichkeit und in Ordnung. Aber mit diesem Trick letztlich eine Veränderung der Kirche als solcher auszuschließen, ist etwas dreist. In diesem Stil geht es dann weiter:

S. 88: «Die kirchlichen Skandale und Krisen der letzten Jahre haben die Dringlichkeit zur Erneuerung unterstrichen. Dabei geht es um wesentlich mehr, als um Veränderungen einiger Strukturen oder um moralische Appelle an einzelne Verantwortungsträger, sondern es geht um grundsätzliche Erneuerungen, die ernst damit machen, dass die Kirche ein Werkzeug Gottes ist, um die Befreiung und Erlösung der Menschen zu verkünden. »

Die Hauptsache steht im Nebensatz: Es geht nicht um Veränderungen einiger Strukturen. Die will RM nicht, obwohl sie sich praktisch aus seinen Theorien über die Freiheit ergeben würden. Verräterisch ist seine Erschütterung über den Missbrauchsskandal auf S. 104: «Bei mir jedenfalls hält die Erschütterung darüber an, dass »Schein« und »Sein« in der Kirche selbst so eklatant auseinanderfallen konnten und vielfach weiter auseinanderfallen.» Worüber müsste man mehr erschüttert sein? Darüber, dass Menschen sexuell missbraucht und damit in ihrer Entwicklung zu freien Persönlichkeiten massiv behindert wurden – oder darüber, dass der schöne Schein der Kirche nicht aufrecht erhalten bleibt? Hier findet sich keine Rede von einer Erschütterung über die Opfer, nur über die Täter, die die Kirche in Misskredit gebracht haben – skandalös.


Dabei kann RM auch anders formulieren. Eigentlich hängt er gar nicht so an der konkreten Sozialform und Organisation der Kirche. Er schreibt auf S. 89:

«Eins ist gewiss: Wenn die These von der Andersartigkeit der Kirche überzogen wird, entwickeln sich sowohl das tägliche Glaubensleben wie auch die Sozialgestalt der Kirche als Anachronismus, als neben der Zeit herlaufend. Diesem Bild liegt ein falscher Dualismus zugrunde, der von einer Immunisierungsstrategie geprägt ist, die versucht, die einmal gefundene Sozialform und Organisation gleichermaßen abzuheben, indem sie sakralisiert wird und somit unangreifbar erscheinen soll. Dass zugleich dieser Nimbus des Mysteriösen, scheinbar Ewigen und Fremden auch faszinierend ist, gehört durchaus zum Gesamtbild. Doch es geht ja nicht darum, dass die Kirche als aus der Zeit gefallene »Merkwürdigkeit« bestaunt und bewundert wird, sondern darum, ob sie das Evangelium wirklich allen Menschen verkündet und diese Wahrheit überzeugend lebt. »

Genau gelesen, zeigt sich auch in diesen „progressiv“ klingenden Worten, dass es RM um die Kirche geht und ihr Image – und um sonst nichts. Er verzweifelt darüber, dass sich so gar nichts bewegt, und daher wirkt RM nach außen als „Reformer“, aber es fehlen die konkreten Konsequenzen. So schreibt er durchaus ansprechend auf S. 90:

«Diese Balance zu finden zwischen Bewahrung und Veränderung, ist eben auch anzuwenden auf die soziale Gestalt der Kirche, das heißt darauf, wie sie in ihrer Organisationsform und Struktur sichtbar wird. Das Zweite Vatikanische Konzil hat ganz richtig betont, dass Kirche und die Gesellschaft sich wechselseitig beeinflussen und so auch voneinander lernen. Die Frage ist also nicht, ob dieses Wechselverhältnis besteht, sondern wie es sich vollzieht. »

Heißt das, dass die Katholische Kirche heute selbstverständliche Formen staatlicher Organisation in Form von Parlamentarismus, Demokratie, Mitbestimmung usw. auch in ihren Strukturen aufnehmen müsste? Naja, nicht wirklich. Wie ist das mit der Hierarchie in der Kirche?

S. 91: «Wenn gesagt wird, die Kirche ist hierarchisch organisiert und mit anderen menschlichen Gemeinschaften nicht vergleichbar, handelt es sich nur beim ersten Hinsehen um ein starkes Argument. Bei der hierarchischen Struktur geht es ja um die Ämter in der Kirche und um die Frage, wie Glaubensentscheidungen zustande kommen. Die Ämter haben ihre Vollmacht nicht »von unten«, sondern sind, im Sinn des unverfügbaren Heils, Gaben des auferstandenen Christus »von oben«. In gewisser Weise lehnt sich die hierarchische Struktur aber doch an der Praxis der Demokratie an, wenn es um die Klärung geht, durch welche Verfahren Entscheidungen im Blick auf Personen und Glaubensüberzeugungen getroffen werden.

Etwas schwammig, doch beim dritten Lesen wird es dann klar. Die Ämter sind „von oben“, damit unangreifbar. Eine leicht verschwurbelte, aber doch zu durchschauende Vergöttlichung des kirchlichen Amtes. Das ist schwer zu entlarven und wird von der permanenten Freiheitsrhetorik überlagert, aber es dringt doch durch, dass es für RM nicht anders gehen kann als so, wie es jetzt ist. Also keine Veränderung, auch nicht über den und mit dem Synodalen Weg. Niemals könnte dieser Synodale Weg irgendeine Entscheidung treffen, die zu einer Veränderung des Bestehenden führen würde. Was immer dabei herauskommt, die letzte Entscheidung fällt der Papst. Und das ist für RM völlig in Ordnung so, wie er auf S. 92 sagt:

«Die letzte Entscheidung des Papstes oder eines Konzils in Gemeinschaft mit den Bischöfen ist nicht als willkürliche Entscheidung gedacht, sondern beruht auf dem Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes (sensus fidelium) und der kirchlichen Gesinnung (sensus ecclesiae). Die Kommunikation zwischen Volk Gottes, Theologie und Lehramt ist eine zwingende Voraussetzung für das Leben der Kirche. »

Das Lateinische zeigt das Unumstößliche an. Was der Glaubenssinn und die kirchliche Gesinnung sind, legt das Lehramt fest („Papst oder Konzil“). Spannend ist dann der zweite Satz mit der Kommunikation: Hier werden drei Größen genannt, Volk Gottes, Theologie und Lehramt. Das suggeriert der Leserschaft zunächst, dass es sich hier um einen gleichberechtigten Diskurs dieser drei Größen auf Augenhöhe handelt. Doch das ist Augenwischerei: Im kirchlichen Recht und in der kirchlichen Praxis untersteht die Theologie dem Lehramt (can. 218; can. 812 CIC1983; was u.a. an der Notwendigkeit des kirchlichen „nihil obstat“ für vom Staat bezahlte Theologieprofessor*innen sichtbar wird – und an zahllosen Maßregelungen in den letzten Jahrzehnten, die streng nach dem kanonischen Recht durchgeführt wurden). Das Volk Gottes wiederum ist zum Gehorsam gegenüber den Lehren der Hirten verpflichtet (can. 212 §1). Kommunikation? Nur als Einbahnstraße. Dialog? Bedeutet im katholischen Sinn: Ich erklär’s euch, so oft ihr es hören wollt. Theologie? Wird seitens der Kirchenleitungen von den Bistümern bis zur Kurie nicht mehr wahrgenommen (can. 212 §3 wird konsequent missachtet, theologische Diskurse werden nicht gehört, theologische Literatur wird von den Entscheidern nicht gelesen, Theologen werden nicht befragt, Theologinnen schon gar nicht, wie das vorliegende Buch auf skandalöse Weise unverblümt zeigt).

RM stellt sich das mit der Freiheit und der kirchlichen Struktur im Einzelnen so vor. Lesen wir weiter auf S. 93:

«Auch wie Ämter in der Kirche besetzt werden, ist übrigens eine geschichtlich veränderliche Verfahrensfrage, die in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften je anders organisiert wurde. Und Gleiches gilt für die Sozialgestalt der Kirche. Hierarchische Organisation bedeutet eigentlich nur die Anerkennung, dass die Kirche eben gerade nicht vom willkürlichen subjektiven Handeln Einzelner abhängig ist, sondern dass der Heilige Geist selbst wirkt, die Kirche in der Wahrheit Gottes hält und nicht zulässt, dass sie vom Weg Gottes abkommt. Dies gehört zum Kernbestand des katholischen Glaubens. »

Auch das muss man mehrfach lesen. Die Hierarchie garantiert, dass die Kirche nicht vom willkürlichen subjektiven Handeln Einzelner abhängig ist – das ist eine merkwürdige und problematische Vorstellung. Übertragen auf den Staat und die Gesellschaft hieße das, dass demokratische Prozesse, die nicht hierarchisch konstituiert sind, vom willkürlichen, subjektiven Handeln Einzelner abhängig sind. So kann man „Wahlen“ auch sehen: Das sind willkürliche, subjektive Einzelentscheidungen. Wenn ich wähle, äußere ich meinen subjektiven Willen. Die Hierarchie aber hat den Heiligen Geist auf ihrer Seite, so dass die Kirche in der Wahrheit Gottes bleibt. Es ist klar, dass man daran nichts ändern darf. Nicht-hierarchische Sozialgestalten, wie etwa ein demokratisch verfasster Staat, sind dann per se schon „geistlos“, weil vom Willen Einzelner, der in „Wahlen“ geäußert wird, abhängig. Der theologische Denkfehler, der sich hier anbahnt, wird in einem Satz ausgedrückt, der die Kirche zu einer letztlich verfassungswidrigen Organisation machen würde, wenn er denn stimmte.

S. 93: «Der Souverän in der Kirche ist nicht das Volk oder einzelne Vertreter des Volkes, sondern Gott. »

Wäre der Satz richtig, müsste ich sofort aus der Kirche austreten, da ich mich dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sehe. Aber hier liegt nur ein theologischer Denkfehler vor. Bei aller Mystifizierung bleibt die Kirche eine menschliche Organisation: Sie ist eben nicht das Reich Gottes, wie RM schon richtig gesagt hat. In eine solche menschliche Organisation kann ich Gott nicht als Souverän hineinziehen. Oben habe ich RM schon zitiert (von S. 38): Gott ist ganz anders. Gott steht seiner Schöpfung, dieser Welt und damit auch der Kirche gegenüber und ist nicht Teil von ihr. Somit ist es irreführend und eine falsche, immanentistische Vorstellung, Gott sei der Souverän der Kirche. Nein, das Volk Gottes ist der Souverän der Kirche: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht irren“ (2. Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium 12). Das Volk Gottes ist als Ganzes und jede/r Einzelne darin Gott gegenüber verantwortlich. So, wie jede/r Staatsbürger/in als Einzelne/r und als Gemeinschaft dem Grundgesetz gegenüber verpflichtet und verantwortlich ist.

Machen wir einfach die Gegenprobe: Wenn das Volk Gottes nicht der Souverän der Kirche ist, sondern Gott – was ist dann das Volk Gottes? Was ist – um die analoge Sprechweise vom Souverän fortzuführen – in einem Staatswesen das Volk, wenn es nicht der Souverän ist? Unmündig und zum Gehorsam verpflichtet, jedenfalls nicht frei. RM konterkariert also sich selbst. Seine Anthropologie, die gut und richtig ist, funktioniert nur in einer Kirche, in der das Volk Gottes der Souverän ist. Nach RM ist aber nicht das Volk Gottes der Souverän der Kirche, also gibt es die von RM so feierlich skizzierte Freiheit in dieser real existierenden Kirche faktisch nicht.

Die Widersprüchlichkeiten setzen sich fort, denn RM spürt, dass das so nicht geht. Eine freiheitlich (und demokratisch!) organisierte Gesellschaft ist ja gar nicht so schlecht und wird im Grunde von der Katholischen Soziallehre auch befürwortet. Das gibt er auf S. 95 zu:

«Was allgemein für menschliches Miteinander und personenförderndes Zusammenleben gilt (und im Übrigen ja insbesondere von der Katholischen Soziallehre gefordert wird), kann im kirchlichen Leben selbst nicht aufgehoben werden. Andernfalls würde man die Kirche zu einer nicht-geschichtlichen und menschlicher Erkenntnis unzugänglichen Wirklichkeit erklären. »

Mit anderen Worten: Eigentlich müsste die Kirche (nach ihrer eigenen Soziallehre) ihre Strukturen freiheitlich-demokratisch gestalten. Ab dem Wort „andernfalls“ wird eine Kirche befürchtet, die eine „nicht-geschichtliche und menschlicher Erkenntnis unzugängliche Wirklichkeit“ ist. Das ist dann aber genau das, was herauskommt, wenn ich Gott zum Souverän der Kirche erkläre. Gott ist nicht-geschichtlich (oder besser: über-zeitlich, über der Geschichte stehend) und menschlicher Erkenntnis nicht zugänglich (niemand hat Gott je geschaut) – und wenn dieser Gott Souverän der Kirche sein soll, wäre die Kirche die aus der Zeit gefallene Merkwürdigkeit, die RM auf S. 89 (s.o.) ablehnt.


Aber es gibt Hoffnung. Eine Veränderung ist möglich, so lesen wir das mit Begeisterung auf S. 95–96:

«Selbstverständlich wissen wir, dass viele Erkenntnisse und Überzeugungen der Vergangenheit vergessen sind und keinen Bestand hatten. Eine Weiterentwicklung des Glaubens, der Theologie, des kirchlichen Lebens ist immer notwendig. »

Da RM so wenig konkret schreibt, sei ein Beispiel eingestreut: Die jahrhundertelange Judenfeindlichkeit der Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil mit dem Dokument Nostra aetate glücklicherweise beendet. Papst Johannes Paul II. hat mit seinen Reden vom „nicht gekündigten Bund“ (Gottes mit dem Volk Israel, den Menschen jüdischen Glaubens) dazu sehr Wichtiges gesagt. Und damit nebenbei eine alte, weit verbreitete Tradition des kirchlichen Antijudaismus – Gott sei Dank! – über Bord geworfen. Damit ist deutlich: Tradition allein – ist gar nichts.

Aber weiter mit RM auf S. 96:

«[Die Weiterentwicklung des kirchlichen Lebens ] … nimmt neue Erkenntnisse der Wissenschaft und vor allem auch die Erfahrungen der Menschen auf; sie liest die »Zeichen der Zeit«. »

Das gibt Hoffnung: Sowohl die neuere humanmedizinische Forschung als auch die neuere wissenschaftliche Bibelexegese haben herausgefunden, dass die kirchliche Lehre über Homosexualität falsch ist. Also muss sie möglichst bald geändert werden. Leider bleibt RM solche konkreten Schlussfolgerungen aus seinen Thesen schuldig. Sollte es zum Treffen kommen, würde ich ihn diesbezüglich gern beim Wort nehmen.

Woran aber soll man sich bei all diesen „Veränderungen“ orientieren? Hier weiß RM eine klare Antwort:

S. 97: «Maßstab und Orientierung ist und bleibt dabei Christus. »

Was fromm und gut klingt, ist ein problematisches Axiom: Ist denn „Christus“ so ohne weiteres zugänglich wie ein Kriterienkatalog, das BGB, das Grundgesetz? Und selbst diese menschlichen Kataloge bedürfen der Interpretation (was täglich mannigfaltig geschieht). Auch „Christus“ ist uns nur im Gotteswort der Bibel zugänglich, das aber im Menschenwort geschrieben ist. Es bedarf somit der Interpretation und Hermeneutik! Wer aber definiert und erklärt uns, was „Christus“ ist? Das Lehramt! Das sagt RM so nicht ausdrücklich, meint er aber vermutlich, und liegt ja auch nahe. Aber ein rein textfixiertes Lehramt gefällt ihm auch nicht:

«Eine zu einseitige Orientierung etwa an Texten, an rein intellektuell gewonnenen Einsichten und an Zustimmungen zu satzhaft formulierten Wahrheiten versperrt den Weg in die Freiheit. »

Das ist ein interessanter Satz zum Weltkatechismus (Katechismus der Katholischen Kirche). RM meint wirklich den Katechismus, das wird aus der nächsten Seite deutlich:

S. 98: «Eine Kirche, die ihren Glauben hauptsächlich in theologisch reflektierten Texten und im Katechismus ausdrückt und das Element der Erfahrung, der geprägten Lebenswirklichkeit eher als persönlichen Anwendungsfall dieser gelernten Sätze begreift und nicht als existenziellen Ort der gläubigen Erfahrung selbst, wird Menschen kaum anziehen können. »

Stimmt schon. Aber was machen wir dann mit dem Katechismus der Katholischen Kirche? Und mit dem Kirchenrecht?

S. 99: «Denken, Erfahren, Feiern und Handeln müssen zusammen gesehen und neu gewichtet werden. Das ist auch eine klare Absage an jeden Fundamentalismus, aber auch an jeden Relativismus und theologischen Rationalismus, und vor allem an eine »Schriftgelehrtenmentalität«, gegen die Jesus so deutlich aufgetreten ist. »

Wen meint RM hier? Bin ich als Theologieprofessor ein „theologischer Rationalist“, weil ich die Bibel mit Vernunft auslegen möchte? Bin ich gar ein „Schriftgelehrter“, gegen den Jesus deutlich auftreten wird? O weh, mir scheint, ich bin verloren.


Doch es gibt Hoffnung, ich kann mich im Gebet an Gott wenden (wenn mich die Kirche lässt):

S. 102: «Deshalb gehört es zu den bedeutsamen Aufgaben der Kirche, Räume des Gebetes, der Feier der Gottesdienste, der Spiritualität für die Menschen aufzuschließen. Das heißt, auch die unterschiedlichsten Erfahrungswege der Menschen anzuerkennen und ihnen gleichermaßen Schätze der Tradition der Kirche so nahezubringen, dass sie deren Bedeutung und Bereicherung für ihr persönliches Glaubensleben und ihr Gebet erfahren können und sie ihre Erfahrung einbringen und integrieren können. Das Gebet ist ein Ort der Freiheit.

Das gilt nur für Kinder sowie heterosexuelle Erwachsene, die ihre Sexualität ausschließlich in der Ehe zur Erzeugung von Nachkommenschaft leben. Segensfeiern für homosexuelle Paare, wiederverheiratete Geschiedene und Menschen, die andere „Erfahrungswege“ haben, bleiben meines Wissens vorerst verboten.

S. 102: «Manche fragen: Relativiert die Orientierung am Leben der Menschen denn nicht den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens? Wird hier nicht die Freiheit der Wahrheit übergeordnet? Ich jedenfalls kann das nicht erkennen. Denn die Wahrheit des Glaubens ist nicht nur ein Konzentrat, das in Texten gesichert vorliegt, sondern muss sich ebenso bewähren in der Praxis des Glaubens, der Liturgie und der Caritas. Wahr wird der Glaube nicht durch Texte, sondern durch Personen, die lebendige Zeichen der Wirklichkeit Gottes unter uns werden. Das »Medium« der Wahrheit ist kein Kultbild, kein Schriftstück, sondern eine Person, nämlich Jesus Christus. »

Das ist eine sehr gute Argumentation von RM, die aber im Widerspruch zur katholischen Lehre in vielen Punkten, v.a. der Sexualmoral, steht. Oder aber man dreht es so, dass das Lehramt, das die verquaste und weltfremde Sexualmoral darlegt, zugleich und ausschließlich definiert, wer oder was Jesus Christus ist und will. Dann geht das System wieder auf und ist geschlossen. Wo aber steht im Evangelium, dass Jesus Christus gesagt hat, dass Menschen, die in einer verantworteten und auf Liebe und gegenseitige Achtung beruhenden gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, eine „objektiv ungeordnete Beziehung“ führen?


Beim Thema Ökumene wird es wieder richtig spannend:

S. 102-103: «Denn alle, die auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft sind, gehören ja zu dem einen Leib Christi, sind also schon in gewisser Weise gemeinsam Kirche. »

Damit ist Abendmahls- und Eucharistiegemeinschaft doch möglich, nicht wahr? Diese offensichtliche Konsequenz aus den netten Formulierungen zieht RM dann nicht, und damit bleiben seine Ausführungen hier – nette Formulierungen.


Ab S. 105 geht es um die Frauen, und hier merkt RM nicht, dass seine Statements verräterisch und hochproblematisch sind. Das Lektorat des Verlages hat ihn nicht darauf aufmerksam gemacht.

S. 106-107: «Und wir müssen um der eigenen Glaubwürdigkeit willen Frauen auf allen Ebenen der Kirche, von der Pfarrei bis auf die Ebenen von Bistum, Bischofskonferenz und auch im Vatikan selbst, noch weitaus mehr an Führungsaufgaben beteiligen. Wir müssen das wirklich wollen und auch umsetzen! Der Eindruck, dass die Kirche, wenn es um die Macht geht, letztlich eine Männerkirche ist, muss in der Weltkirche und auch im Vatikan überwunden werden. Sonst werden junge Frauen in der Kirche keine wirkliche Gestaltungmöglichkeit für sich sehen. Es ist höchste Zeit! »

RM spricht sich hier nicht für die Frauenordination aus. Schon der erste Satz ist verräterisch: Es geht nicht um gleichberechtigte Partizipation, weil Frauen auch Menschen sind, sondern es geht „um die eigene Glaubwürdigkeit“! Es muss auch nicht die Männerkirche überwunden werden, sondern nur der Eindruck. Die Kirche muss sich ändern, damit man es nicht mehr so merkt, dass sie eine Männerkirche ist. Dass ein Lektorat eine so männerzentrierte Schreibweise durchgehen lässt, ist besorgniserregend. RM fordert dann die Beteiligung von Frauen in Leitungspositionen unterhalb des Generalvikars. In der freien Wirtschaft nennt man das „die gläserne Decke“. Zunächst aber etwas Selbstkritik.

S. 113: «Die Ergebnisse [einer kirchlichen Studie] zeigten uns im Vergleich von 2013 und 2018: Eine Steigerung des Frauenanteils auf den oberen Führungsebenen von 13 % auf etwa 19 % und auf der mittleren Ebene von 19 % auf 23 % ist nun nicht nichts, gleichwohl enttäuschend und nicht hinreichend, um wirklich deutlich zu machen, dass wir eine Veränderung der Kultur wünschen und Frauen in Leitung ausdrücklich begrüßen. »

Solche verheerenden Zahlen zu präsentieren, zeigt schon etwas Mut. Tapfer geht es weiter:

«Das entspricht ähnlichen Erfahrungen in weltlichen Unternehmen: Erst wenn die »kritische Masse« von einem Drittel Frauen erreicht ist, wirken sich die spezifischen Sichtweisen von Frauen auf die Entscheidungsfindung in einer Führungsetage aus. Erst in gemischt geschlechtlichen Teams und Gremien können sich Männer und Frauen wirklich ergänzen und partnerschaftlich zusammenwirken. Auch in der Kirche beobachten wir, dass sich im Zusammenwirken von Frauen und Männern bestimmte Verhaltens- und Sprechweisen auflösen, die nur Männer (und speziell auch Kleriker) bzw. nur Frauen in ihren homogenen Gruppen ausüben. »

Konkrete Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, werden nicht genannt. Das Weiheamt ist für Frauen unerreichbar und kategorisch ausgeschlossen:

S. 114: «Frauen in kirchlichen Führungspositionen – und dabei geht es gerade nicht um die Ordination von Frauen! – tragen entscheidend dazu bei, geschlossene klerikale Zirkel bzw. das Männerbündische der Kirche aufzubrechen. Denn es geht umfassender um den stark männlichen Eindruck, den die Kirche bei den Menschen heute in der Öffentlichkeit hinterlässt. »

Es geht also nicht um die Ordination für Frauen. Worum dann? RM will das Kirchenrecht offenbar nicht ernstnehmen, vielleicht sieht er darin eine „Schriftgelehrtenmentalität“. Doch nach dem Kirchenrecht bleibt es dabei: Leitung ist in der römisch-katholischen Kirche immer und nur und ausschließlich an das sakramentale Amt gebunden. RM sieht andere Führungspositionen in der Kirche, und die sollen für Männer wie für Frauen offenstehen:

«Was den Laien-Männern an Führungsposition in der Kirche offensteht, muss auch für Frauen möglich sein! »

Das ist keine besonders hervorzuhebende Errungenschaft, denn das ist rechtlich schon der Fall. Doch wie es bei der Personalpolitik in den Ordinariaten wirklich zugeht, das verrät uns RM zwischen den Zeilen in folgendem Abschnitt:

S. 115: «Um mehr Frauen an der Leitung in der Kirche zu beteiligen – auch das ist ein Ergebnis der Erhebung von 2018 –, braucht es vor allem den entschiedenen Willen der Bischöfe und anderer leitender Kleriker und Männer, Führungsaufgaben mit Frauen zu besetzen, auch wenn dies bedeutet, männliche Bewerber, seien es Priester oder auch Laien, zu enttäuschen. Man spricht in der Personalentwicklung von »unconscious bias« (sinngemäß etwa: »unbewusste Wahrnehmungsverzerrungen«) und bezeichnet damit dieses oft unbewusste Bevorzugen von Kandidaten, die einem zum Beispiel aufgrund des gleichen Geschlechts natürlicherweise vertrauter sind als andere. »

Was RM an „Führungsaufgaben“ vorschwebt, macht er dann an einem Beispiel deutlich.

S. 115: «Schließlich ist es uns noch nicht gelungen, vor allem in der Öffentlichkeits- und Pressearbeit Frauen sichtbarer zu machen. Auch hier müssen wir Veränderungen angehen und zum Beispiel Pressesprecherinnen einsetzen, um deutlich zu machen, dass gerade auch Frauen der Kirche ein Gesicht geben und für die Kirche sprechen können. »

So also stellt sich RM die Rollenverteilung vor: Die Entscheidung trifft der Bischof, und die Pressesprecherin gibt das dann an die Öffentlichkeit. Wenn der männliche Vorstand eines DAX-notierten Unternehmens die 100% Männer im Aufsichtsrat damit rechtfertigen würde, dass man ja eine Pressesprecherin habe, würden alle sagen: Das ist Sexismus. Liebe Pressesprecherinnen, v.a. die in kirchlichen Diensten: Sie leisten hervorragende Arbeit, aber – und das wissen Sie selbst am besten – Sie treffen keine Entscheidungen. Die Pressesprecherin ist das Gesicht. Der Kopf ist sie nicht.

Dazu passt dann eine weitere Beobachtung, die ich schon genannt habe. In RMs Buch kommt keine einzige Theologin zu Wort (nur die Heilige Maria einmal auf S. 148). Ich werde das meinen Studentinnen erzählen, damit sie sich ihre Karrierepläne entsprechend einrichten.


Ich habe trotz dieses Desasters fairerweise weitergelesen und noch viele wertvolle Aussagen gefunden. Was RM zur Debatte um den Schutz der Natur sagt, ist sehr gut. Er ruft die wichtigen Aussagen von Papst Franziskus in Erinnerung.

S. 123: «Gerade die Sonderstellung des Menschen als Ebenbild Gottes, ausgestattet mit Vernunft und Freiheit und unantastbaren Rechten, geht einher mit einer entsprechenden Verantwortung gegenüber der Schöpfung. Wird allerdings diese Verantwortung verleugnet, dann bleibt der Mensch nicht nur hinter seinem Auftrag als Hüter der Schöpfung zurück, sondern damit zeigt sich zugleich die menschliche Wurzel der ökologischen Krise.

Hier hat RM meine volle Zustimmung. Seine Ausführungen zur Amazonas-Synode sind, was die ökologische Krise betrifft, sehr wertvoll. Über weite Strecken wird Papst Franziskus‘ Enzyklika Laudato si’ nacherzählt. Man liest das immer wieder gern.


Auf S. 140–141 äußert sich RM zum Thema „Künstliche Intelligenz“. Seine Ausführungen erinnern mich etwas an ein berühmt gewordenes Zitat. Das ist schließlich für uns alle noch „Neuland“.


Im weiteren Verlauf kommen dann Ausführungen, die insofern beängstigend sind, weil man sich fragt, wer diese wichtigen Selbstverständlichkeiten denn nicht teilen würde, wer hier nicht zustimmt, gegen wen RM also ankämpft.

S. 141–142: «Noch einmal will ich sagen: Niemand kann eine vollkommene und hundertprozentig gerechte Gesellschaft gestalten, aber die Zielvorstellung muss doch sein, gesellschaftliche, politische und ökonomische Prozesse so zu gestalten, dass sie dem Menschen prinzipiell dienen und möglichst allen Menschen dienen. »

Was bedeutet hier „möglichst allen Menschen“? Wer sollte da ausgeschlossen sein? Außerdem ist die pathetische Aussage zu kurz gegriffen. Gesellschaftliche, politische und ökonomische Prozesse dürfen nicht allein dem Menschen dienen, sondern müssen auch nachhaltig, umweltverträglich und damit dem „Lebenshaus Erde“ (Erich Zenger, Mit Gott ums Leben kämpfen, 341) als ganzem dienen. Die anthropozentrische Ethik, die RM hier propagiert, muss zu einer biozentrischen Ethik hin erweitert werden. Es ist höchste Zeit!

S. 144: «In diesen aktuellen Herausforderungen können und müssen Christen und die Gemeinschaft der Kirche das Evangelium der Freiheit verkünden – im Wort und im eigenen Leben. Um ein echtes Zeichen der Hoffnung zu geben und ihrem Auftrag gerecht zu werden, dürfen sie nicht die populistischen, autoritären und fundamentalistischen Antworten befördern. »

Das klingt wieder selbstverständlich, ist es aber angesichts der jüngsten Entgleisungen eines anderen deutschen Kardinals keineswegs.

Besorgniserregend sind die Ausführungen auf S. 148-149: Ein romantisierender Rückblick auf die „Wende“ von 1989 beschreibt, wie die Kirche damals auf der Seite der Freiheit stand. Dann aber folgen bohrende Fragen:

«Und heute? Wo steht die Kirche heute? Ist sie präsent? Bewegt sie die Herzen der Menschen? Engagiert sie sich für die Freiheit? Oder nährt sie gar die Angst vor der Freiheit? Steht die Freiheit vor uns, persönlich und gesellschaftlich, als große Gabe und Aufgabe, oder ist sie uns gleichgültig geworden und die Demokratie nicht so wichtig? »

Wenn ein Kardinal solche Zweifel formuliert, muss man sich wirklich Sorgen machen: Weniger um die vielen Gläubigen, die schon ihren Weg finden werden, als mehr um die Kreise der Kirchenleitung, in denen RM normalerweise verkehrt. Wenn er dort Anlass zu diesen Fragen sieht, weiß man, was die Stunde geschlagen hat.


Mir ist noch aufgefallen, dass RM in der Wahl mancher Begriffe kein glückliches Händchen hat. Auf S. 149–150 ermuntert er zu einem wenig ersprießlichen Gedankenexperiment, das ich uns erspare (Sie finden es im Beitrag von C. Florin). Aber er setzt augenzwinkernd an mit: «Gehen wir doch einmal auf die Reise in ein Fantasieland, nennen wir es »Frankonia«.» Dummerweise ist „Franconia“ die weibliche Symbolgestalt meiner Heimat Franken. Aber RM nennt sein Fantasieland „Frankonia“ mit „k“. Eine Internetrecherche zeigt, dass das ein Hersteller von Jagd- und Sportwaffen in Rottendorf bei Würzburg ist. Wieder hat das Lektorat nicht aufgepasst. Auf S. 156 findet sich ein Begriff, der so heute nicht mehr verwendet werden kann:

«Ich bin davon überzeugt, dass wir am Anfang einer »neuen Weltordnung« stehen. »

Der Begriff „Neue Weltordnung“ wird hier völlig unkritisch gebraucht. Dabei wird übersehen, dass dies ein beliebtes Etikett von Verschwörungsideologen ist. Demokratiefeindliche und antisemitische Gruppen schüren die Angst vor einer „Neuen Weltordnung“. Diese „NWO“ sei das angebliche Ziel von Eliten und Geheimgesellschaften, eine autoritäre, supranationale Weltregierung zu errichten, hinter der dann eine „jüdische Weltverschwörung“ vermutet wird. Unlängst hat Ina Rottscheidt vom Deutschlandfunk dazu recherchiert. Der Begriff „neue Weltordnung“ ist also durch den libertären Antisemitismus völlig diskreditiert. Das ist aber noch nicht so lange einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, insofern ist das nicht als Kritik, sondern schlicht als Hinweis gemeint.


Eine gewisse Arglosigkeit oder Uninformiertheit spricht auch aus folgender Aussage auf S. 158:

«Es heißt also, Religionen gewinnen an Bedeutung. Aber nimmt nicht auch die Instrumentalisierung der Religion zu? Werden Religionen, auch das Christentum, neu benutzt als Begründung für Abgrenzung, als Instrument einer politisch bestimmten kulturellen Identität? »

Das klingt etwas naiv. Die Instrumentalisierung von Religionen ist längst in vollem Gange. Das jüngste Beispiel ist der Auftritt von Donald Trump mit einer Bibel in der Hand vor einer Kirche, zu der die Polizei ihm den Weg mit Tränengas durch eine friedlich demonstrierende Menge gebahnt hat. Die Society of Biblical Literature hat heftig gegen diese Aktion protestiert. Instrumentalisierung von Religion für religionsfremde (politische, militärische u.a.) Zwecke ist wahrscheinlich so alt wie Religion selbst.

RM ist andererseits, was innerkirchliche Themen betrifft, bestens informiert, ohne sein Wissen ganz mit seiner Leserschaft zu teilen. Vieles bleibt im Nebel, lässt aber nichts Gutes erwarten. So z.B. auf S. 161:

«Ich weiß und verstehe, dass viele im Blick auf die aktuelle Situation der Kirche eher Sorgen haben. Es ist keine Frage: Die Kirche selbst sucht nach Orientierung, sie sucht ihren Weg, und das wird sicher noch andauern. Was ich aber nicht akzeptieren kann ist, dass der Weg der Kirche ein Weg in eine größere Enge, in einen stärkeren Fundamentalismus wird und sich möglicherweise sogar politisch, gesellschaftlich und auch theologisch auf eine autoritäre Restauration zubewegt. »

Ich bedanke mich für die Insider-Information. Damit wissen wir, wohin sich führende Kreise der römisch-katholischen Kirche bewegen. Auch wenn er den Kardinal auf dem Titelblatt weggelassen hat: Reinhard Marx ist immer noch Kardinal der römisch-katholischen Kirche und weiß (zumindest in diesen Dingen), wovon er spricht. Allerdings nennt er keine Namen. Wen deckt RM, wenn er Fundamentalismus aufdeckt?

S. 163: «Die Kirche sollte auf der Seite der verantwortlichen Freiheit stehen und das auch in ihren Grundvollzügen Verkündigung, Liturgie und Caritas sichtbar machen und in ihrer Ethik nach innen und nach außen verbinden. »

Auch hier bin ich dankbar für die Information. Die Kirche tut das also (noch) nicht. Was wiederum nicht ganz stimmt, denn etliche Menschen, die in und für die Kirche arbeiten, verwirklichen die „verantwortliche Freiheit“ bereits in hervorragender Weise.

RM schließt mit dem herzerfrischenden Aufruf auf S. 165:

«Freiheit braucht Mut!»

RM zieht aber die Konsequenzen, die sich aus seinen theoretischen Ausführungen ergeben würden, nicht. Er nennt bei den Kreisen, die er zu kritisieren scheint, keine Namen. Ehrlicherweise hätte RM ergänzen müssen: „Ich habe ihn (den Mut) leider nicht. Aber Sie vielleicht?“

One thought on “Freiheit, die ich meine”

  1. Sehr geehrter Herr Prof. Hieke,
    haben Sie vielen Dank für diese ausführliche und gründliche, ans “Eingemachte” gehende Buchbesprechung! Es wäre höchst wünschenswert, wenn der Autor des besprochenen Buches Ihre Anmerkungen und Rückfragen gründlich zur Kenntnis nehmen würde. Andererseits – was würde das im Letzten nützen? (Nichts, weswegen ich auch vor Jahren schon aus der Kirche ausgetreten bin.)
    Mit freundlichen Grüßen –
    Thomas Brandecker

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