Habakuk heute

Gedanken zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine (seit 24.02.2022) – Stand: 03.10.2022

Kurzfassung auf feinschwarz.net

Seit Jahresbeginn 2022 beschäftigt mich dieser Krieg: Erst waren es massive Truppenansammlungen an der Westgrenze Russlands zur Ukraine, die als „Militärmanöver“ getarnt waren. Man wollte nicht wahrhaben, dass hier Größeres im Gange war. Ich ahnte damals schon, dass der Angriff kommen wird. Vielleicht nach dem russischen Weihnachtsfest? Erst am 24.02.2022, also quälend langsam, wie so vieles in diesem Krieg, erfolgt der Angriff – der Angriff einer der weltweit größten Atommächte auf ein viel kleineres, unabhängiges Land im Osten Europas, die Ukraine. Noch immer, Monate nach Kriegsbeginn, fehlen einem die Worte angesichts dieser Ungeheuerlichkeit und der unsäglichen Gräueltaten, die nun folgten und noch andauern.

Noch immer ringe ich um die richtigen Fragen und mögliche Antworten, gerade auch seitens der Theologie und der Bibelwissenschaft, mein Fachgebiet. Was geht hier vor? Und wie können wir das verarbeiten? Und vor allem: Was können wir tun?

Der Prophet Habakuk

Am 27. Sonntag im Jahreskreis C, am Erntedankfest, bin ich anhand der Sonntagslesung auf den Propheten Habakuk gestoßen – eine kleine Prophetenschrift mit drei Kapiteln innerhalb des Zwölfprophetenbuchs. Mit diesem vergleichsweise kurzen Text hat es eine merkwürdige Bewandtnis. Er ist sehr offen, mehrdeutig, vieldeutig formuliert. Es ist nicht ganz sicher, aber vieles spricht dafür, dass mindestens der Grundbestand der Schrift um das Jahr 600 v. Chr. entstanden ist – nach dem Erstarken der neubabylonischen Großmacht unter ihrem König Nebukadnezar (ab 605 v. Chr.). Es war erkennbar, zu ahnen, dass hier noch größere Militäraktionen stattfinden werden (und Jahrzehnte später wurde dann auch Jerusalem von den Babyloniern erobert und der Tempel zerstört). Doch diese Ereignisse werden nicht ausdrücklich beschrieben, als käme es gar nicht auf Jahreszahlen und Namen von Königen an. Auch ist von Frevlern und von Gerechten die Rede, doch weiß man nicht so genau, wer damit gemeint sein könnte. Es könnte auch um Grundsätzliches gehen – oder um eine Botschaft, die zu vielen Zeiten passt, gehört werden kann und – Mut machen soll.*

Der Kommentar aus Qumran

Eine jüdische Gruppierung, die sich im 2. Jh. v. Chr. vom Judentum in Jerusalem und dem Tempel losgesagt hat, hat sich die Schrift des Propheten Habakuk herausgegriffen und in den einzelnen Sätzen direkt ihr Schicksal und das ihrer Umgebung wiedergefunden. Diese Leute schrieben eine Art „Kommentar“ zum Buch Habakuk, einen Pescher. Diese Schrift, der Pescher (p) zum Buch Habakuk (Hab), hat man in der ersten Höhle von Qumran etwa zwei Jahrtausende nach ihrer Abfassung wieder gefunden. Daher nennt man die Schrift 1QpHab – und das Wort Pescher leitet sich ab von pischro – „seine Bedeutung“. Die Leute, die diesen Kommentar verfasst hatten, zitierten einen Vers aus Habakuk, dann schrieben sie pischro – „seine Bedeutung:“, und dann schrieben sie nieder, welche Ereignisse und Probleme ihrer Zeit (wohlgemerkt: fünf Jahrhunderte nach dem Propheten Habakuk!) von diesem Vers angesprochen werden.

Eine derartige „Unmittelbarkeit“ kommt uns heute vielleicht komisch vor, und bei dem Pescher handelt es sich nicht um einen Kommentar, wie wir heute Bibelkommentare verstehen. Merkwürdig sind auch die Deutungen, die diese Leute damals vorgenommen haben. Aber das ist kein Wunder – wir Heutigen leben schließlich weder um 600 v. Chr. noch im 1. Jh. v. Chr.

Die besondere Bewandtnis mit Habakuk

Trotzdem lässt mich der Text der Habakuk-Schrift – oder wenigstens einzelne Verse daraus – nicht mehr los. Die Sätze entwickeln angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eine bestürzende Aktualität. Man muss sie einfach mal lesen. Zunächst spricht der Prophet:

Hab 1,2 Wie lange, Herr, soll ich noch rufen und du hörst nicht?
Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht.
3 Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen und siehst der Unterdrückung zu?
Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit.
4 Darum ist die Weisung ohne Kraft und das Recht setzt sich nicht mehr durch.
Ja, der Frevler umstellt den Gerechten und so wird das Recht verdreht.
(Hab 1,2–4 EÜ 2016)

Der Prophet schreit „Hilfe, Gewalt!“ – und Gott (JHWH, der Herr) hilft nicht. So sehe ich das momentan auch. Warum sieht Gott der Unterdrückung zu? Das Recht setzt sich nicht mehr durch, das Recht wird verdreht – in den russisch besetzten Gebieten werden Scheinreferenden durchgeführt, es wird vorgegaukelt, die Bevölkerung wolle den Anschluss an Russland, die Gebiete werden völkerrechtswidrig annektiert. Man steht daneben und kann nur noch schreien.*

Rohe Gewalt – und Ratlosigkeit

Was dann in Hab 1,5–11 folgt, passt nicht ganz in unsere Zeit – der Text beschreibt die „Chaldäer“, das ist die Bezeichnung für die neubabylonische Großmacht. Sie werden als grausame Großmacht geschildert, „entschlossen zu roher Gewalt“. Sie erobern jede Festung im Sturm, „und sie haben ihre Kraft zu ihrem Gott gemacht“. Das passt nicht auf diesen Krieg: Zwar geht die russische Armee mit roher Gewalt vor, aber die „militärische Spezialoperation“ ist ein quälendes Gezerre. Von „Kraft“ sieht man nicht viel, und der „Gott“ dieser Aktion ist entweder der unberechenbare Herr mit der Glatze im Kreml (mit seinen 80er-Jahre-Telefonen im Hintergrund), oder ein pseudo-religiöser Popanz eines nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Popen*. Das Ganze wird zum Rätsel, die Ratlosigkeit steigt – heute wie damals.

Anfrage an einen rätselhaften Gott

Der Prophet sucht händeringend nach einer Erklärung für die Gewalt, vor allem für die Gewalt an Unschuldigen und Gerechten, die er beobachten muss. Gewiss, man kann die alte Rede von der „Strafe Gottes“ bemühen – aber dieses theologische Argument trägt nicht mehr, damals schon nicht und heute auch nicht. Zu kompliziert ist das alles, wie kann denn Gott zusehen, wenn auch die Gerechten verschlungen werden? Habakuk schildert einen rätselhaften Gott, der die Menschen nur noch wie Fische im Meer behandelt:

12 Bist du nicht seit Urzeiten, Herr, mein heiliger Gott? Gewiss werden wir nicht sterben!
Herr, du hast sie dazu gerufen, an uns das Gericht zu vollziehen:
Du, unser Fels, du hast sie dazu bestimmt, uns zu bestrafen.
13 Deine Augen sind zu rein, um Böses mit anzusehen, du kannst der Unterdrückung nicht zusehen.
Warum siehst du also den Treulosen zu und schweigst, wenn der Ruchlose den Gerechten verschlingt?

14 Warum behandelst du die Menschen wie die Fische im Meer, wie das Gewürm, das keinen Herrn hat?
15 Mit der Angel holt er sie alle herauf, er schleppt sie weg in seinem Netz
und rafft sie fort in seinem Fischgarn; er freut sich darüber und jubelt.
16 Deshalb opfert er seinem Netz und bringt seinem Fischgarn Rauchopfer dar; denn durch sie hat er reichen Gewinn und ein üppiges Mahl.
17 Darum zückt er unablässig sein Schwert, um ohne Erbarmen die Völker zu morden. (Hab 1,12–17)

Wer angelt hier und mordet die Völker (1,15-17)? Wahrscheinlich sind vordergründig die Babylonier als imperialistische Großmacht gemeint, die die kleineren Völker erobert und unterwirft. Aber dass sie dies überhaupt kann, geht am Ende vom Tag doch auf Gott zurück. Und so ist es doch Gott, der die Menschen wie Fische im Meer behandelt (1,14). Irgendwie, so fürchte ich, hat der Prophet nicht unrecht: Wie will man das denn anders ausdrücken, wenn Gott so viel Gewalt und Krieg einfach zulässt? Aber das ist nicht das letzte Wort …

Der Prophet und die Antwort Gottes

Der Prophet gibt aber nicht auf und hält weiter Ausschau nach einer Antwort Gottes – und hier finde ich einen ersten Trost auch heute.

Hab 2,1 Ich will auf meinem Wachtturm stehen, ich stelle mich auf den Wall und spähe aus, um zu sehen, was er mir sagt und was ich auf den Vorwurf gegen mich antworten soll.

2 Der Herr gab mir Antwort und sagte:
Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann!
Denn erst zu der bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst;
aber es drängt zum Ende und ist keine Täuschung;
wenn es sich verzögert, so warte darauf; denn es kommt,
es kommt und bleibt nicht aus.

4 Sieh her: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin,
der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben. (Hab 2,1–4)

Endlich antwortet Gott dem Propheten auf seinem Wachtturm. Schreib nieder, was du siehst – das ist der Auftrag. Gemeint ist: Der Prophet soll seine Beobachtungen des Unrechts niederschreiben, dokumentieren, was er sieht. Das ist ein wichtiger Punkt: Das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands und die verübten Gräueltaten müssen dokumentiert werden, aufgeschrieben, deutlich, auf Tafeln, im Internet, gespeichert, nicht vergessen. Über zu viele Untaten und Völkermorde wurde schon der Deckmantel des Vergessens gelegt, der Sand der Geschichte gestreut – weil man nicht die Möglichkeiten und die Medien hatte, es zu dokumentieren. Heute ist das anders: Das wird nicht vergessen, daran gewöhnt man sich nicht – wir hätten schon bei der Krim-Annexion anders handeln müssen, jetzt wissen wir es besser. Das alles muss festgehalten werden!

Erst zu einer bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst – nun sieht der Prophet die Zukunft, das kommende Handeln Gottes, das sich noch verzögert. Warte darauf, denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus – das ist die Hoffnung, die uns aufrecht hält, wie damals den Propheten: Gottes Gerechtigkeit wird kommen, Gott wird für Gerechtigkeit sorgen. Warte darauf – nicht aufgeben, das ist ein weiterer wichtiger Punkt: Wir dürfen nicht nachlassen, nicht nachgeben, nicht vergessen.

Die große Hoffnung

Nun bricht sich die große Hoffnung Bahn, formuliert als direkte Rede Gottes, als Gottes Verheißung, als Gottes großes Versprechen: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben. Die Gewalttäter, die nicht rechtschaffen, sondern hinterhältig, grausam, brutal sind – die schwinden dahin. Die Gerechten, die treu sind – Gottes Gebot der Liebe und des Friedens treu bleiben – die bleiben am Leben. Das ist die Hoffnung. Nochmal: Wenn es sich verzögert, so warte darauf. Wir sitzen jetzt im „Wartesaal der Geschichte“ – wir warten und hoffen, dass dieses gravierende Unrecht, diese Verschiebung und Verbiegung des Rechts endlich beseitigt wird. Bleiben wir treu – unseren Werten und unseren Überzeugungen, dem Recht, das nicht das Recht des Stärkeren ist, sondern das zum friedlichen Zusammenleben der Völker dient, bleiben wir dem treu, mit aller Kraft.

Die Hoffnung reißt mit

Ist das Tor zur Hoffnung aufgestoßen, so findet der Prophet – oder spricht noch immer Gott? – nun weitere ermutigende Worte. Am liebsten hätte ich, sie würden sich heute noch erfüllen!

5 Wahrhaftig, reiche Beute täuscht den hochmütigen Helden; er wird keinen Erfolg haben, reißt er auch wie die Unterwelt seinen Rachen auf und ist er auch wie der Tod unersättlich.
Dann werden alle Völker sich gegen ihn versammeln
und alle Nationen sich gegen ihn zusammenrotten.
6 Werden sie nicht alle ein Spottlied auf ihn und einen Rätselspruch gegen ihn anstimmen?
Ja, sie werden sagen: Weh dem, der zusammenrafft, was nicht ihm gehört, wie lange noch? – und sich hohe Pfänder geben lässt.
7 Werden nicht plötzlich die aufstehen, die dich beißen,
und die aufwachen, die dich bedrängen? Dann wirst du zu ihrer Beute!
8 Du hast viele Völker ausgeplündert; deshalb plündern jetzt die Völker dich aus, die übrig blieben, wegen der Bluttaten am Menschen und der Gewalttaten an Land, Stadt und ihren Bewohnern. (Hab 3,5–8)

Auch hier würde ich am liebsten sagen: pischro – „seine Bedeutung ist:“ Der hochmütige Held im Kreml wird keinen Erfolg haben, reißt er auch wie die Unterwelt seinen Rachen auf. Die Völker werden sich gegen ihn versammeln und gemeinsam ihn in die Schranken weisen: Weh dem, der zusammenrafft, was nicht ihm gehört – wie lange noch?

Es hat eine merkwürdige Bewandtnis mit diesen Worten aus der Schrift des Habakuk: Sie wirken so aktuell, man möchte sie eins zu eins ins Heute holen.* Freilich ist da eine geschichtliche Distanz: Der Text ist uralt, er sprach einst in eine ganz andere Situation. Doch er tat dies auf eine Weise und in einer Sprache, die Menschen zu anderen Zeiten auch angesprochen hat. Die Leute, die den in Qumran gefundenen Habakuk-Kommentar geschrieben haben, haben in diesen Worten Gottes Botschaft an sie heute gesehen. Hatten sie völlig unrecht? Wenn es ihnen doch in ihrer bedrängten Situation geholfen hat, aus der Habakuk-Schrift die Ermutigung für ihre eigene Lage herauszulesen!

Lassen wir uns von Habakuk ermutigen!

Ich weiß um die historische Distanz zwischen der aktuellen Lage und dem biblischen Text des Habakuk.* Trotzdem lasse ich mich von diesem Text mitreißen – er gibt mir Mut, Geduld und Hoffnung, in diesen schwierigen Zeiten nicht zu verzweifeln. Vielleicht spricht Gott zu mir, zu uns, zu den Menschen in der Ukraine gerade heute durch die uralten Worte des Propheten in seinem Gebet am Schluss:

16 Ich zitterte am ganzen Leib, als ich es hörte, ich vernahm den Lärm und ich schrie.
Fäulnis befällt meine Glieder und es wanken meine Schritte.
Doch in Ruhe erwarte ich den Tag der Not, der dem Volk bevorsteht, das über uns herfällt.
17 Zwar blüht der Feigenbaum nicht, an den Reben ist nichts zu ernten,
der Ölbaum bringt keinen Ertrag, die Kornfelder tragen keine Frucht;
im Pferch sind keine Schafe, im Stall steht kein Rind mehr.
18 Ich aber will jubeln über den Herrn und mich freuen über Gott, meinen Retter.
19 Gott, der Herr, ist meine Kraft.
Er macht meine Füße schnell wie die Füße der Hirsche
und lässt mich schreiten auf den Höhen. (Hab 3,16-19)


Nachbemerkung:

*           Man muss grundsätzlich sehr vorsichtig sein, Aussagen der Religion, der Theologie und vor allem der Bibel auf tagesaktuelle Ereignisse (etwa auch auf die Corona-Pandemie) zu beziehen. Schnell kann daraus eine legitimierende Ideologie werden. Ein schlimmes Beispiel dafür ist der Moskauer Patriarch Kyrill I. Er lässt sich bedenkenlos vor den Karren der Kriegspropaganda des Kreml spannen. Es macht aber einen großen Unterschied, ob man seine religiösen Traditionen und heiligen Schriften als Arsenal für die Legitimation von Gewalt benutzt (so Kyrill I.), oder ob man die Wirklichkeit in all ihren Schattierungen und gewaltsamen Verwerfungen wahrnimmt und diese vor dem Hintergrund der eigenen religiösen Traditionen und heiligen Schriften deutet (so mein Versuch hier).

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